«Wissenschaft» im Pandemie-Modus
«Muss die bundesrätliche Task Force aufgelöst werden?»
Die Swiss National COVID-19 Science Task Force, eine Expertengruppe, die eigentlich Entscheidungsträger über die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Coronavirus-Krise informieren sollte, geniesst weiterhin eine ausserordentliche Stellung und beeinflusst das tägliche Leben der Schweizer in einer noch nie dagewesenen Weise. Eine Debatte über ihre Legitimität und Rolle ist notwendiger denn je. Vor allem ist es höchste Zeit, die Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit kritisch zu überprüfen.
Task Force ist eines der einflussreichsten Gremien der Schweiz
Die beiden Journalistinnen vom Recherche-Netzwerk re-check.ch haben ganze Arbeit geleistet: Sie haben monatelang die Arbeit der Task Force des Bundes analysiert und nun eine Arbeit mit dem Titel «Wissenschaft im Pandemie-Modus: der seltsame Fall der Swiss National COVID-19 Science Task Force» abgeliefert, die die schlimmsten Erwartungen übertrifft, die man von dieser selbsternannten «Expertengruppe» des Bundes haben kann.
Die offizielle Aufgabe dieses Gremiums, wäre es, den Bundesrat, die Kantone und die Bundesverwaltung in der COVID19-Krise durch Empfehlungen zu beraten, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen sollen. Die Task Force beschränkt sich jedoch selten nur auf die Beratung. Seit Februar 2020 vergeht kein Monat, in dem nicht eines der Mitglieder oder sogar das gesamte Kollektiv aktiv in den Medien zu Wort kommt (wie zum Beispiel hier im Juni, hier im Juli , hier im August, hier im September, hier im Oktober, hier im November und hier im Dezember 2020).
Meistens geht es der Task Force darum, ein bedrohliches Bild der Situation zu zeichnen, die von den Behörden verordneten Massnahmen zu kritisieren und eine Verschärfung zu fordern. Und selbst wenn der Bundesrat zunächst beschliesst, ihren Empfehlungen nicht zu folgen, bekommt die Task Force am Ende fast immer, was sie empfiehlt: zum Beispiel die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln oder die Schliessung von Restaurants, Bars und Nachtclubs. Damit ist die Task Force heute eines der einflussreichsten Gremien der Schweiz und als solches muss es zwingend auf ihre Legitimität und die Qualität ihrer Arbeit hin überprüft zu werden.
Task Force ist kein gewähltes Gremium
In ihrer Arbeit weist das Recherche-Netzwerk darauf hin, dass die Task Force ein nicht gewähltes und nicht repräsentatives Gremium ist. Sie ist weder dem Volk noch dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig. Sie hat sich auf Initiative, unter anderem einiger ihrer Mitglieder selbst konstituiert.
Zusätzlich zu diesem Mangel an demokratischer Legitimation kommt, dass die Arbeitsweise der Task Force gelinde gesagt undurchsichtig ist. Ihre Mitglieder sind kooptiert d.h. die Ernennung von Neumitgliedern muss lediglich in Abstimmung mit den Auftraggebern der Task Force, also vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) und dem BAG abgesprochen werden. Es gibt kein Reglement, das die Kriterien für die Aufnahme, das Wahlverfahren oder die Rotation festlegt. So wurde beispielsweise Pietro Vernazza, Chefarzt der Abteilung für Infektionskrankheiten am Kantonsspital St. Gallen, im März 2020 in das Expertengremium eingeladen, danach jedoch ohne Erklärung wieder ausgeladen.
Ein weiteres Problem ist, dass weder die Legislative noch der Souverän, das Volk, eine Möglichkeit haben, zu erfahren wie die derzeit 70 Mitglieder der Task Force ihre Entscheidungen treffen. So verzichtet die Task Force darauf ein Protokoll über ihre Sitzungen zu führen. Dies wird damit begründet, dass die Mitglieder der Task Force ehrenamtlich und unentgeltlich tätig sind, und ihre Prozesse daher sehr schlank gehalten sind. Diese Bereitschaft, unbürokratisch zu agieren, mag für die Mitglieder der Task Force Vorteile haben, stellt aber ein grosses Problem in Bezug auf Transparenz und die Möglichkeit demokratischer Kontrolle dar. Wenn die Task Force keine Protokolle ihrer Sitzungen führt, kann ein wichtiger Teil ihrer Aktivitäten niemals einer detaillierten Prüfung unterzogen werden, weder jetzt noch in Zukunft.
Persönliche Meinungen werden zu Fakten
Die beiden Autorinnen des Recherche-Netzwerks machen auch darauf aufmerksam, dass die Mitglieder der Task Force nie nur als Forscher eines Fachgebietes Auskunft geben, sondern auch zu Themen, die eigentlich gar nicht in ihren Kompetenzbereich gehören. Das Interview mit Samia Hurst-Majno, das der Blick am 7. Februar 2021 veröffentlicht hat, ist sinnbildlich für das, was in den letzten zehn Monaten passiert ist. Diese Experten sprechen, wenn sie gefragt werden, nie nur als Forscher eines Fachgebiets.
Die Forscherin spricht auch ausführlich über epidemiologische Fragen, vor allem über die Gefahr einer dritten Welle und die Entwicklung der Zahl der «Fälle». Aber auch über die Haltung der Einwohner der Schweiz (wir wären «zu wenig vorsichtig») und die Angemessenheit neuer Massnahmen. Das sind alles Themen, die nicht in ihren Kompetenzbereich, die Bioethik fallen. Das hindert Samia Hurst-Majno, wie auch andere Mitglieder der Task Force, nicht daran, sich ermächtigt zu fühlen, diese Aspekte zu kommentieren und gute und schlechte Punkte an die Bevölkerung und die Behörden zu verteilen.
Das Resultat dieser Vermischung der Rollen ist seit Monaten dasselbe: Aussagen von Task-Force-Mitgliedern machen Schlagzeilen. Sobald sie von anderen Medien aufgegriffen werden, werden sie zu «Fakten», die Ängste und Spannungen schüren und am Ende die Führungskräfte beeinflussen. Indessen ignoriert man Themen und Ergebnisse der Diskussionen zwischen den Führungskräften und der Task Force. Eines ist inzwischen sicher: die öffentlichen Äusserungen der Mitglieder der Task Force bestimmen regelmässig die Richtung der Debatte, obwohl das Reglement dieser Expertengruppe dies nicht vorsieht.
Weltuntergangsszenarien und regelmässig falsche Modelle
Die von diesen Forschern erstellten Szenarien, Analysen und Modelle haben sich regelmässig als falsch erwiesen. Angefangen bei den Zahlen, die Christian Althaus, Emma Hodcroft, Richard Neher und Marcel Salathé in einem ersten Schreiben an Alain Berset im Februar 2020 genannt haben. Die von ihnen vorgetragenen spektakulären Raten von schweren Fällen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen basierten unter anderem auf einer völlig fehlerhaften Modellierung des Imperial College London. Natürlich war es im Februar 2020 schwierig, etwas über das SARS-CoV-2-Virus zu wissen. Aber das Ergebnis war desselbe bei den Szenarien, die die Task Force und einige ihrer Mitglieder später bei Pressekonferenzen und in ihren Beiträgen in den Medien präsentierten: Sie waren oft und erheblich falsch, wie die folgenden drei Beispiele zeigen.
Entwicklung der Epidemie im Sommer 2020
Mitte Juni 2020 äusserte die Task Force die Befürchtung, dass es im Sommer zu einer zweiten Welle kommen könnte und kritisierte die Massnahmen des Bundesrates als unzureichend. Tatsächlich gab es zwischen dem 1. Mai und dem 1. Oktober 2020 ohne Lockdown nie mehr als 29 Hospitalisierungen an einem Tag und nie mehr als 7 Todesfälle pro Tag, die auf COVID-19 zurückgeführt wurden. Diese Zahlen sind weit entfernt von den Vorhersagen der «Experten».
Überlastung der Spitäler im Herbst 2020
Im Oktober, im November und im Dezember 2020, kritisierte die Task Force die Massnahmen im Hinblick auf fehlende Kapazitäten in den Spitälern wiederholt als nicht ausreichend. Die Schweizer Spitäler und ihre Intensivstationen waren jedoch zu keinem Zeitpunkt überlastet (1) (2) (3). Das hinderte die Leitmedien nicht daran, monatelang eine Atmosphäre der Panik aufrechtzuerhalten, indem sie Grafiken und rote Linien präsentierten, ohne die Daten in ihrem Kontext darzustellen oder in Perspektive zu setzen.
Entwicklung der Epidemie zwischen Mitte Dezember 2020 und Mitte Januar 2021
Mitte Dezember 2020 gab die Task Force bekannt, dass die Massnahmen nicht ausreichten und ein Lockdown notwendig sei. Sie befürchte das Schlimmste für die Feiertage. In Wirklichkeit ist die Zahl der Krankenhausaufenthalte und Todesfälle, die auf COVID-19 zurückgeführt wurden, seit Mitte Dezember jedoch stetig gesunken. Und das, obwohl viele Schweizer in den Kantonen, in denen die Skigebiete geöffnet waren, diese aufsuchten und in den Restaurants auf den Pisten assen (ein Verhalten, das das Schlimmste befürchten liess (4), (5)). Wieder einmal hat sich keine der düsteren Vorhersagen bewahrheitet: seit Anfang November zeigen alle Kurven («neue Fälle», Hospitalisierungen, Todesfälle) einen stetigen Rückgang. Und auch hier gab es keine Korrektur, keinen Rückzug und keine Entschuldigung seitens der Experten.
Die «Mutanten» sorgen seit Ende 2020 für anhaltende Panik
Die Frage nach den britischen, südafrikanischen und brasilianischen «neuen Varianten» wird wahrscheinlich der nächste Test für die Zuverlässigkeit der Vorhersagen der Task Force sein. Am 26. Dezember forderte die Task Force aufgrund dieser neuen Varianten erneut «dringende zusätzliche Massnahmen in der Schweiz zur Bewältigung der Pandemie». Am 29. Dezember 2020 legte sie ihr «Wissenschaftliches Update» zu diesem Thema vor, das auch die Variante B.1.1.7 («britische Variante») thematisiert. Dieser Text wurde von beunruhigenden Grafiken begleitet. Abhängig von den betrachteten Szenarien sagten die Verfasser eine Explosion der Fallzahlen voraus, die im April mit mehr als 20.000 neuen «Fällen» pro Tag ihren Höhepunkt würde erreichen können. Dieses Szenario würde Wirklichkeit werden, auch wenn durch «Eindämmungsmassnahmen» «die Reproduktionszahl der aktuell in der Schweiz dominierenden SARS-CoV‑2 Stämme auf 0.9 gebracht» würde, «so dass die Zahl der Ansteckungen mit diesen Stämmen etwa alle vier Wochen halbiert» würde. Am gleichen Tag hielt Martin Ackermann eine Rede bei der Pressekonferenz, bei der er diese Grafiken präsentierte.
Die Fortsetzung gleicht einem «déjà-vu»: Am 30. Dezember 2020 gab der Bundesrat bekannt, dass er die Massnahmen nicht verschärfen würde. Er änderte dann aber seinen Kurs und führte am 13. Januar 2021 dann doch schärfere Massnahmen ein. Da alle Zahlen weiter fielen, wurde mit dem Auftauchen von Varianten argumentiert, die das Schlimmste zu befürchten liessen. Das Ergebnis war eine fünfwöchige Verlängerung der Schliessung von Restaurants, Kultureinrichtungen und Sport- und Freizeitanlagen. Aber auch die Einführung «neuer Massnahmen zur drastischen Reduzierung von Kontakten»: Homeoffice-Pflicht, Schliessung vieler Geschäfte, neue Einschränkungen für private Veranstaltungen und Versammlungen.
Es gibt einige Hinweise darauf, dass die Task Force auch hier unnötigerweise den Teufel an die Wand gemalt haben könnte. Nach ihren Szenarien, selbst den optimistischsten, hätte die tägliche Zahl der «neuen Fälle» bereits im Februar wieder ansteigen müssen. Bislang ist nichts dergleichen geschehen. Im Gegenteil, seit Anfang Februar liegt der 7‑Tage-Durchschnitt bei weniger als 1500 «neuen Fällen» pro Tag. Derselbe Indikator ist auch in Grossbritannien rückläufig, wo die neue Variante seit der letzten Dezemberwoche 2020 dominant ist. Ebenso wie die Anzahl der Hospitalisierungen und Todesfälle. Schliesslich kam eine Studie des King’s College vom 1. Februar 2021 zum Schluss, dass es keinen Unterschied in Bezug auf Symptomatik und Schweregrad der Erkrankung zwischen der bekannten und der neuen Variante gibt.
Lobbyismus statt Wissenschaft
Aus den erwähnten Aktivitäten ergibt sich für das Recherche-Netzwerk folgendes Bild der bundesrätlichen Task Force:
- diese agiert kaum als wissenschaftlicher Beratungsausschuss, der sich der Grenzen seines Mandats bewusst ist.
- diese sorgt sich kaum um die Komplexität von Fragen der öffentlichen Gesundheit.
- diese ist kaum bereit, grösstmögliche methodische Strenge an den Tag zu legen, indem sie transparent sowohl die von ihr herangezogenen Quellen als auch die Unsicherheiten des aktuellen Wissensstands darlegt.
Die beiden Autorinnen kommen zum Schluss, «dass es auch etwas beunruhigend ist festzustellen, dass diese angeblichen Experten für öffentliche Gesundheitspolitik offenbar wenig Gewicht darauflegen, provokative Aussagen zu vermeiden, die am Ende die Öffentlichkeit beunruhigen und verängstigen. Die Bevölkerung befindet sich seit mehr als einem Jahr in einem permanenten Angstzustand und muss täglich sowohl mit alarmierender Medienberichterstattung als auch mit der unbestrittenen Last weitreichender Restriktionen fertig werden, die erhebliche Auswirkungen auf das tägliche private und berufliche Leben haben.»
Zusammenfassend stellen sie fest, dass das Verhalten der Task Force mit ihren öffentlichen Interventionen eher dem einer Lobbygruppe gleicht, deren Ziel es zu sein scheint, eine bestimmte Strategie zu fördern, selbst wenn sie dies durch selektive «Wissenschaft» erreicht und sie offenbar nicht die Absicht hat, ihre vergangenen Fehleinschätzungen einzugestehen oder aus ihnen zu lernen.
Die Task Force hatte mehr als zehn Monate Zeit, um zu zeigen, wozu sie fähig ist. Es ist an der Zeit, dass sich die Legislative – deren Schweigen seit Beginn dieser Krise ohrenbetäubend ist – und der Souverän fragen, ob sie diese Expertengruppe weiter bestehen und so arbeiten lassen wollen, wie sie es bisher getan hat.
Quelle: Re-Check | Wissenschaft im Pandemie-Modus
Meinung der AirVox-Redaktion
Es gibt den aufschlussreichen Erkenntnissen der beiden Autorinnen des Recherche-Netzwerks «Re-Check» eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Ihr Fazit ist klar und eindeutig: die Task Force des Bundes hat jegliche Glaubwürdigkeit und Legitimität als «wissenschaftliches Expertengremium» verspielt.
Es ist höchste Zeit, dass das Parlament unter Federführung der bürgerlichen Parteien dazu drängt, dieses Gremium so rasch als möglich aufzulösen. Gleichzeitig sind nun zeitlich klar definierte Schritte vorzulegen, wie die Schweiz aus dem angerichteten riesigen Schlamassel für Bevölkerung und Wirtschaft, an dem die Task Force leider nicht unschuldig ist, möglichst rasch herauskommt.
Meinung der Redaktion Weltwoche, Roger Köppel